Mehr als zwei Dutzend Ratgeber hat der dänische Familientherapeut Jesper Juul geschrieben. Kann er uns in seinem neuen Werk noch Neues berichten?
Jesper Juul ist für unsere Generation der moderne Erziehungsexperte schlechthin. Seine Bücher heißen “Nein aus Liebe”, “Dein kompetentes Kind” oder “Das Familienhaus”. Seine Empfehlungen sind durch und durch sympatisch und haben viel weniger mit Erziehung als mit Beziehung zu tun.
Führen wie die Wölfe
Und jetzt also gibt es ein neues Buch von dem 68-Jährigen Dänen: Leitwölfe sein. Liebevolle Führung in der Familie. Sollen wir unsere Kinder jetzt anknurren, wenn sie nicht spuren? Ich stelle mir vor, wie ich unseren mittleren Sohn mit bestimmter Autorität in sein Bett drängle, wenn er wieder mal etwas von “Ich will aber noch …” murmelt. Wie ich leicht in sein Fell zwicke, während er immer noch einem Ball hinterherjagt. Meint Juul das?
Nein, natürlich nicht.
Vielmehr meint Juul, dass unsere Kinder es verdienen, dass wir liebevoll die Führung übernehmen. Für ihn sind Wölfe keine Alphatiere voller Aggression, sondern gut funktionierende Anführer, die die Gruppe zusammen halten. Kinder müssen geführt werden, weil sie zwar wissen, was sie möchten, aber nicht immer entscheiden können, was gut für sie ist. Wer führt, erntet Vertrauen und trägt zur Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit bei,
Kinder ernst nehmen, aber nicht wie Erwachsene behandeln
Wer Kinder hingegen wie Erwachsene behandelt. überfordere sie in ihrer Kompetenz. Den kindlichen Mangel an Lebenserfahrung müssen Eltern durch verantwortungsvolle Führung ausgleichen. Dies zusammen mit der Idee, dass Eltern auch Bedürfnisse haben, die sie ihren Kindern durch ein entgegengebrachtes “Nein” deutlich machen müssen, kennen wir aus Jespers Buch “Nein aus Liebe”.
Nicht Erziehung, sondern Beziehung ist für Juul der zentrale Schlüssel für das Zusammenleben mit Kindern. Interessiert Euch für Eure Kinder, rät er. Beobachtet sie, lernt sie kennen, nehmt sie so ernst wie euch selbst. Er spricht davon, dass Kinder den Erwachsenen gleichwürdig seien und auch so behandelt werden sollten. Also begegnen sich Eltern und Kinder doch auf Augenhöhe? Nein. Wenn Juul von Gleichwürdigkeit spricht, meint er nicht Gleichheit. Der Erwachsene bestimmt und übernimmt die Führung, aber das Kind sollte niemals in seiner Persönlichkeit und Würde verletzt werden. Es sollte immer spüren, dass es als Person genauso in Ordnung ist, wie es ist. Es sollte sich immer wahr- und ernstgenommen fühlen.
Voraussetzung: Selbst eine reife Persönlichkeit sein
Für mich neu wie überzeugend in diesem Buch von Juul ist der Rat, sich mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Klar, die eigene Kindheit und wie mit mir umgegangen wurde, prägt, wie ich heute mit meinen Kindern umgehe. Ein reflektierter Umgang mit eigenen Werten und Bedürfnissen, kann im Zusammenleben mit Kindern nur hilfreich sein. Ein gesundes Selbstwertgefühl der Eltern hilft unseren Kindern, ebenfalls ein gesundes Gefühl zu sich selbst zu entwickeln. Und das dürfte doch die Basis für ein glückliches Leben sein.
In Erinnerung geblieben ist mir auch der Hinweis, wie wertvoll Langeweile für Kinder ist. Er kritisiert, dass Eltern viel zu viel Zeit damit verbringen, ihre Kinder zu belehren, zu fördern und zu unterhalten. Für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung sei das gar nicht förderlich. 20 Minuten würde Langeweile maximal dauern. “Das ist die Zeit, die ein Mensch braucht, um sich von den äußeren Anregungen zu lösen, sich mit sich selbst und seiner eigenen Kreativität zu verbinden.” Ich hab’s ausprobiert. Funktioniert! Bei uns sogar auf die Minute genau.
Warum sollen wir noch ein Buch von Jesper Juul lesen?
Lohnt es sich also, noch ein Buch von Jesper Juul zu lesen? Ich finde ja! Natürlich stecken die bekannten Paradigmen in diesem Buch, für die wir den Dänen bereits kennen und lieben. Der Schwerpunkt wird hier aber klar gesetzt auf die Themen Führung und die Umschiffung des Paradoxons Gleichwürdigkeit und Machtüberlegenheit. Das ist interessant. Ebenso wie seine Ausführung zur eigenen reifen Persönlichkeit, die es bedarf um Kinder zu erziehen. Nein, nicht um sie zu erziehen, sondern vielmehr um mit Kindern so gelungen in Beziehung zu treten, dass aus ihnen Erwachsene mit einer gesunden Persönlichkeit werden können. Außerdem ist Jesper Juuls aktuelles Buch wie seine Vorgänge exzellent geschrieben. Man hat stets das Gefühl mit dem gemütlichen Dänen auf der Couch zu sitzen und das ganze mal von Anfang an und verständlich wie überzeugend erklärt zu bekommen.
Übrigens: Wer noch kein Buch von Jesper Juul gelesen hat, dem sei “Leitwölfe sein” als Einstiegslektüre empfohlen. Durchaus geeignet, finde ich!
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